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Elsie Kühn-Leitz

Elsie Kühn-Leitz war von der »Deutschen Arbeitsfront« in der Firma ihres Vaters, der Ernst Leitz GmbH in Wetzlar, als Unterlagerführerin eingesetzt. Die Firma ist auch heute noch international bekannt für die Herstellung der Leica-Kamera. In ihrer Funktion als Unterlagerführerin war Elsie Kühn-Leitz für ein seit 1942 zum Unternehmen gehörendes Lager zuständig, in dem Osteuropäer_innen untergebracht waren, die Zwangsarbeit verrichten mussten. Die Ernst Leitz GmbH stellte in Form hochwertiger optischer Geräte kriegswichtiges Material her. Am 10. September 1943 wurde Elsie Kühn-Leitz (zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt) zum Verhör in die Gestapo-Hauptzentrale in der Lindenstraße in Frankfurt am Main geladen. Nach zwei Stunden des Wartens, in denen zunächst ihr Vater vernommen wurde, verhörten zwei junge Gestapo-Beamte sie selbst stundenlang.

»Ich erwiderte zum Schluss nur, dass ich mich vielleicht gegen ein von Menschen aufgestelltes Gesetz vergangen hätte, aber niemals gegen das göttliche Gesetz, denn vor Gott sind alle Menschen gleich, ob Juden, Christen oder Heiden, und das Gesetz der Menschlichkeit habe mich zu diesem Tun veranlasst, ich hätte also nichts zu bereuen.«

Es folgte ihre Festnahme unter dem Tatvorwurf der »übertriebenen Humanität« gegenüber den ihr unterstellten Ostarbeiterinnen und der Beihilfe zur Flucht einer Jüdin über die Grenze. Nachdem sie in Gestapo-Begleitung ihre notwendigsten Habseligkeiten von zu Hause holen durfte und sich von ihren Kindern und dem Ehemann verabschieden konnte, schlossen sich gegen 21 Uhr abends die Türen des Frankfurter Polizeigefängnisses in der Klapperfeldstrasse 5 hinter ihr. Sie war auf unbestimmte Zeit inhaftiert. Elsie Kühn-Leitz erging es dabei noch vergleichsweise gut, was sie in Bezug auf die Gestapo-Verhöre auch selbst berichtete. Die gesonderte Behandlung führt sie darauf zurück, dass sie ein Mitglied der Leitz-Familie war, hinter der eine Weltfirma gestanden habe. Außerdem verfügte die Familie Leitz über Kontakte zu Personen, die sich für die Gefangene einsetzten, wie etwa Direktor Willy Hof, der als Wegbereiter und Initiator der Reichsautobahn gilt. Durch ihn und Bestechungsgelder ihres Vaters erhielt sie im Polizeigefängnis eine bevorzugte Behandlung. So war sie beispielsweise in einer besseren Zelle untergebracht, erhielt Zugang zu Büchern, konnte tagsüber in der Nähstube arbeiten und durfte bei Bombenangriffen in den Keller.

Elsie Kühn-Leitz beschreibt ausführlich die Haftbedingungen im Klapperfeld – sowohl ihre, als auch die anderer. Auch wenn sie aus ihrer Perspektive schreibt, lässt sich zumindest erahnen, was die Haft für die anderen Häftlinge bedeutet haben muss.

Elsie Kühn-Leitz über ihre Haft im Klapperfeld

Situation, Tagesablauf und Haftbedingungen in der Frauenabteilung 1943

Aufnahme: In der Aufnahme wurden alle Sachen, die sie bei sich trug, registriert. Nur das Waschzeug und die Decke durfte sie behalten, wobei zerbrechliche und spitze Gegenstände abgegeben werden mussten. Daraufhin wurde sie in die Frauenabteilung gebracht, wo sie sich nackt ausziehen musste und von Kopf bis Fuß »untersucht« wurde. Im Anschluss brachte eine ihr wohlgesonnene Wärterin sie in die beste zur Verfügung stehende Einzelzelle, die nach hinten zum kleineren der Höfe lag.

»Meine Zelle war 1,65 x 3,00m groß. Es war darin ein Klappbett mit einem Holzwollsack, in dem, wie sich später herausstellte, viele Wanzen und Läuse waren, die besonders bei Nacht eine rege Tätigkeit entfalteten. Auf dem Bett lag eine schmutzige graue Wolldecke. Ein sogenannter Kübel zur Erledigung der Notdurft stand in einer Ecke. Ferner war in der Zelle ein kleiner Holzhocker, ein ganz kleiner aufklappbarer Tisch und ein kleines Regal zum Ablegen der Waschsachen sowie Waschschüssel und ein Metallbecher zum Trinken.«

Der Tag begann morgens in der Frühe um 4 Uhr. Um diese Uhrzeit standen die Dienst habenden Wachtmeisterinnen auf und weckten das Küchenpersonal, die so genannten Kalfaktoren – Häftlinge, die entsprechende Tätigkeiten verrichten mussten, was ihnen auch die Möglichkeit bot, sich etwas von den Lebensmitteln zu organisieren.

Wecken und Kübel leeren: Gegen 5 Uhr morgens wurden dann alle Gefangenen geweckt. Die Dienst habende Wachtmeisterin ging herum und schloss jede Zelle auf. Dann mussten die Insassinnen ihren Kübel nehmen, um ihn im Kübelraum zu leeren und zu säubern. Auch wenn in diesem Raum ein unerträglicher Gestank herrschte und das Sprechen mit den anderen Gefangenen grundsätzlich verboten war, wurde dieser Zeitpunkt oft für den Tausch von Essen und ein paar aufmunternden Worten genutzt. Nach dem so genannten »Kübeln« ging es zum Wasserholen, um sich im Anschluss zu waschen und die Zelle zu putzen. In den meisten Fällen beschränkte sich das Putzen darauf, die Holzwolle zurück in den Sack zu stopfen. Die Betten mussten nach dem Aufstehen an die Wand hochgeklappt werden und durften erst abends wieder herunter gelassen werden. Tagsüber war das Hinlegen streng verboten.

Frühstück: Gegen 6 Uhr wurden die Zellen wieder aufgeschlossen und alle Insassinnen mussten in Reih und Glied antreten, um ein trockenes Stück Brot und dünnen Kaffee in Empfang zu nehmen.

Jeden Morgen: Nach dem Waschen und »Kübeln« wurden von den Wachtmeisterinnen all diejenigen mit Namen ausgerufen, die noch an diesem Tag zur Gestapo oder in das Polizeipräsidium mussten. Die Ausgerufenen wurden im Gemeinschaftsraum zusammengepfercht und dann nach und nach mit dem Gefangenentransporter, der »grünen Minna«, ausgefahren.

Hofgang: Zwischen 10 und 11 Uhr stand der vorgeschriebene Hofgang auf der Tagesordnung. Die Inhaftierten wurden für 20 Minuten in den Innenhof geführt. Der Hofgang der Männer fand meist zwischen 5 und 7 Uhr statt und war durch gleichmäßige Exerzierschritte hörbar. Wenn die Wärter_innen keine Zeit oder keine Lust hatten oder schlechtes Wetter war, fiel der Hofgang aus. Auch beim Hofgang war das Sprechen streng verboten.

Über den Tag hinweg war es strengstens untersagt sich auf das Bett zu setzen oder sich hinzulegen. Jede Zelle war mit einem Guckloch ausgestattet, durch das die Wärter_innen das Geschehen in der Zelle jederzeit kontrollieren konnten. Alle zwei Wochen durfte man einen Brief nach Hause schreiben und sich mit der Erlaubnis der Gestapo zusätzliche Lebensmittel bringen lassen. Bücher waren ebenfalls nur mit einer Genehmigung zu bekommen, die Elsie Kühn-Leitz nach einiger Zeit erhielt.

Essen: »Es war fast jeden Tag dieselbe dünne Wassersuppe mit ein paar Kartoffeln, Weißkraut, selten Wirsing, gelegentlich Rotkraut und öfters Kohlrabistückchen. Zweimal in der Woche schwammen auch fein gemahlene Fleischstückchen darin herum.«

Abend: Um 17 Uhr wurde die letzte Mahlzeit verteilt. Sie bestand meist aus Malzkaffee und trockenem Brot – zweimal pro Woche gab es Weißkäse dazu und das Brot wurde durch Nudeln oder Brei ersetzt.

Nähstube

Nach etwa 8 Wochen wurde es Elsie Kühn-Leitz durch die Fürsprache von Willy Hof erlaubt, von 7.00 Uhr morgens bis um 18.00 Uhr abends in der Nähstube zu arbeiten. Die Nähstube befand sich in den oberen Stockwerken in einem größeren Raum zum Hof hin. Die hier eingesperrten Frauen mussten beispielsweise Bettzeug oder Gefängniskleidung flicken. Außerdem mussten Puppen und Stofftiere für das so genannte »Winterhilfswerk des Deutschen Volkes« gebastelt werden. Obwohl dies eine Form von Zwangsarbeit darstellt, war diese Tätigkeit für Elsie Kühn-Leitz vergleichsweise angenehm, weil es ihr die Möglichkeit gab, der Enge und Einsamkeit der Zelle zu entkommen.

Bombardierung

Während der Bombardierung war es im Gefängnis besonders schrecklich, denn die Häftlinge mussten eingesperrt in ihre Zellen miterleben, wie um sie herum Bomben einschlugen. Als ausgebildete Sanitätshelferin gelang es Elsie Kühn-Leitz jedoch, erneut mit Hilfe von Herrn Hof, während der Bombardierungen in den Luftschutzkeller gebracht zu werden. Zu Bombeneinschlägen im Klapperfeld kam es laut Elsie Kühn-Leitz erst nach ihrer Entlassung, Ende November 1943. Im Männertrakt starben dabei mehrere Gefangene und auch Wachtmeister.

Quelle: Kühn-Leitz, Elsie: Mut zur Menschlichkeit. Vom Wirken einer Frau in ihrer Zeit. Dokumente, Briefe und Berichte. Herausgegeben von Klaus Otto Nass. Bonn 1994.