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Inschriften aus Abschiebehaft und Polizeigewahrsam im Klapperfeld

»This is a historic house & everyone must write down something«

[Inschrift 62, Zelle 70]

Über viele Jahrzehnte hinweg haben Inhaftierte hier im zweiten Stock des Gebäudes tausende von Inschriften hinterlassen. In allen Zellen nutzten Gefangene die Türen, Wände, Fenster­rahmen, Tische und Stühle als Medium, um in verschiedensten Formen und Sprachen das auszudrücken, was sie im Moment der Haft nicht anders mitteilen konnten. Bisher wurden etwa 1400 Inschriften dokumentiert, während viele noch nicht erfasst oder übersetzt werden konnten.

Die bisher gefundenen Inschriften sind von 1955 bis 2002 ­entstanden, also über einen Zeitraum von fast fünfzig ­Jahren. Die ältesten Inschriften finden sich auf den Tischen und ­Stühlen der Einzelzellen, was darauf schließen lässt, dass diese ­spätestens in den 1950er Jahren angebracht und seitdem nicht erneuert wurden. Diese frühen Inschriften stammen vermutlich von Menschen, die in Gewahrsam genommen worden waren. Der Schwerpunkt dieser Ausstellung liegt jedoch auf der weit größeren Anzahl von Inschriften, die von Abschiebegefangenen stammen. Die Zellen scheinen seit den 1980er Jahren nicht mehr renoviert worden zu sein, da die Inschriften auf den Wänden und Türen bis in diese Zeit zurückreichen. Die meisten Inschriften sind mit Männernamen unterzeichnet, aber es wurden auch zwei Frauennamen gefunden.

Die Palette der benutzten Schreibwerkzeuge ist breit. Dazu zählen Kugelschreiber und Filzstifte sowie scharfe Gegenstände, mit denen Botschaften in die Wände oder in die Möbel geritzt wurden. Andere Inschriften wurden mit dem Ruß von Kerzen oder Feuerzeugen, mit Zahnpasta oder Lebensmitteln, wie etwa Marmelade, geschrieben. Zeitzeug*innen bestätigen, dass die Gefangenen gewisse persönliche Gegenstände wie Stifte mit in die Zelle nehmen durften. Die Verwendung von Alltagsgegenständen wie Zahnpasta und Marmelade lässt jedoch vermuten, dass nicht alle Inhaftierten solche Gegenstände bei sich hatten. Die Inhalte der Inschriften sind ebenso unterschiedlich wie die Schreibwerkzeuge. Bestimmte Arten von Botschaften wiederholen sich jedoch: Häufig sind ähnlich einer Visitenkarte Namen, Herkunfts- und Aufenthaltsorte der Personen und das Datum der Abschiebung oder die Aufenthaltsdauer zu lesen. Viele Inschriften sind Gebete, Glaubensbekenntnisse oder Bitten um göttlichen Beistand. Es gibt zahlreiche politische ­Botschaften, darunter häufig nationalistische Symbole, harsche Kritik am deutschen Staat, seinen Bürger*innen, Polizei und Justiz.

Es lassen sich auch Liebesbotschaften an Kinder, Partner*innen oder Freund*innen finden, sowie Durchhalteparolen und ein paar handfeste (Rechts-)Tipps an Mitgefangene. Einige Inschriften sind in Vulgärsprache verfasst oder haben sexistische, rassistische, homophobe oder antisemitische Inhalte.

Ein Inhaftierter hat zum Zeitvertreib ein Rätsel hinterlassen, das sinngemäß lautet: »Was für Gewichte brauchst du, wenn du mit vier Gewichten jede mögliche Kilogrammzahl zwischen 1 und 40 messen können willst?« Darüber hinaus ermöglichen die Inschriften auch immer wieder Einblicke in die Bedingungen von Haft und Abschiebung. So hinterließ eine Person in russischer Sprache: »Dusche Montag, Mittwoch, Freitag, Futter geben sie um 10.00 Frühstück, um 12.30, um 17 Uhr«. Der nächtliche Einschluss und die Einsamkeit in Einzelzellen wird wie folgt beschrieben: »beschissen ist es hier von 5 bis 9 Uhr morgens.« Eine ukrainische Inschrift zeugt davon, dass die Person, die sie verfasst hat, zu diesem Zeitpunkt die einzige im Gefängnis war: »Vom 28.08. ganz alleine im Gefängnis bis 31.08. Zwei Tage und drei Nächte«. Eine andere Inschrift dokumentiert eine fehlende Essensausgabe: »Was ist los hier Heute gibt’s keine zu fressen oder was?« Mehrmals drücken Inschriften Unsicherheit über das bevorstehende Entlassungs-, bzw. Abschiebedatum aus. Zwei weitere geben an, dass Inhaftierte ins falsche Land, das heißt nicht das Herkunftsland abgeschoben wurden.

Insgesamt wurden bisher Inschriften in 32 verschiedenen Sprachen dokumentiert. Zu den häufigsten zählen Rumänisch/Moldauisch (231), Polnisch (122), Arabisch und Türkisch (112), Russisch (100), Englisch (96), Deutsch (93) und Bosnisch/Serbisch (66). Teilweise wurden Inschriften mehrsprachig verfasst. Länder, die am häufigsten genannt wurden, sind Moldova (139), Polen (87), Rumänien (85), Türkei (74) und Deutschland (73). 150 Inschriften beinhalten Angaben über die Haftdauer: Der Großteil (123) war weniger als einen Monat, meistens 13, 14 oder 15 Tage inhaftiert. Es sind jedoch auch längere Haftdauern dokumentiert: Eine Inschrift spricht von ­einem ­halben, eine andere sogar von einem ganzen Jahr.